40 Jahre Amputation – was ich gelernt habe

„Geht das überhaupt, ein erfülltes Leben mit nur einem Bein?“, fragen mich Menschen oft. Die kurze Antwort lautet: Ja, das geht. Die längere Antwort ist etwas komplexer, aber vielleicht noch ermutigender. Lass mich dir erzählen, was ich in den letzten 40 Jahren gelernt habe, seitdem ich im Sommer 1985 mit gerade einmal 21 Jahren mein Bein verloren habe.

Der Tag, der alles veränderte

Ich war mitten in meiner Ausbildung in der Landwirtschaft. Jung, sportlich, voller Pläne. Ein Moment der Unachtsamkeit – und eine Maschine zog mich mit dem rechten Bein hinein. Von einer Sekunde auf die andere änderte sich alles: Hemipelvektomie, die komplette Amputation meines rechten Beins samt Beckenteilen. Dass ich diesen Tag überhaupt überlebt habe, war medizinisch gesehen ein Wunder. Mein Leben war jetzt anders – radikal anders. Doch was damals unmöglich schien, entwickelte sich mit den Jahren zu einem außergewöhnlichen Weg, auf dem ich mehr über mich lernte, als ich mir je vorgestellt hätte.

Die ersten Jahre: Vom Verlust zur Akzeptanz

Am Anfang war alles schwer – körperlich und mental. Ich musste völlig neu lernen, wie es ist, aufzustehen, mich zu bewegen, überhaupt einen normalen Alltag zu leben. „Normal“ – dieses Wort bekam für mich eine neue Bedeutung. Normalität entstand nicht von heute auf morgen, sondern langsam, durch tägliche kleine Erfolge.

Die erste Erkenntnis damals war für mich zentral:

Akzeptiere, was nicht zu ändern ist, und gestalte aktiv, was möglich ist.

In diesem Satz steckt meine Erfahrung aus den ersten Jahren. Akzeptanz bedeutet nicht aufzugeben, sondern zu verstehen, was du beeinflussen kannst, und genau dort aktiv anzusetzen.

Praktische Erkenntnisse – das, was wirklich hilft

Heute, nach vier Jahrzehnten, weiß ich sehr genau, was praktisch im Alltag hilft und was nicht. Es sind nicht unbedingt die großen technischen Lösungen, sondern alltägliche Routinen und strategische Entscheidungen:

  • Ich habe gelernt, meine innere Realität ernst zu nehmen.
    Meine Gedanken, Gefühle und Glaubenssätze hatten großen Einfluss darauf, wie ich mit der Amputation umgegangen bin. Erst als ich bereit war, meine Sicht auf mich selbst zu hinterfragen und neue innere Muster zuzulassen, wurde Veränderung möglich.

  • Ich habe meinen Körper nicht als Hindernis, sondern als Trainingsfeld begriffen.
    Bewegung, Sport und physiologische Anpassung waren für mich kein Selbstzweck – sie waren der Schlüssel, um wieder Vertrauen in meine Fähigkeiten zu gewinnen. Mein Körper wurde nicht „repariert“, aber er wurde wieder meiner.

  • Ich habe erfahren, wie entscheidend soziale Resonanz ist.
    Beziehungen, die mich gespiegelt, gehalten und auch mal herausgefordert haben, waren essenziell. Familie, Freundschaften, Peer-Coaches – sie alle haben mir geholfen, mich selbst nicht auf die Amputation zu reduzieren.

  • Ich habe gelernt, mich in Systemen zurechtzufinden und sie mitzugestalten.
    Krankenkassen, Reha-Träger, Berufssysteme – all das war anfangs überwältigend. Aber mit der Zeit habe ich Wege gefunden, mich kompetent zu machen. Wissen, Klarheit und eine gewisse Hartnäckigkeit haben mir Teilhabe ermöglicht.

Psychische Widerstandskraft – aus Krisen wachsen

Der größte Lernprozess war für mich die psychische Bewältigung. Die Amputation war ein Trauma – aber heute sage ich klar: Es war nicht das Ende, sondern der Beginn eines neuen, sinnvollen Lebens.

Ich habe erlebt, dass Menschen unglaublich resilient sind, wenn sie Hoffnung und Perspektive finden. Peer-Coaching, also der Austausch mit anderen Betroffenen, wurde für mich persönlich zum Schlüssel. Die Erfahrung anderer und meine eigene Fähigkeit, anderen Mut zu machen, gaben meinem Leben eine tiefere Bedeutung.

Was ich heute anderen mitgeben möchte

Aus meiner Geschichte sind fünf Kern-Erkenntnisse hervorgegangen, die ich dir gerne mitgeben möchte:

  1. Akzeptiere deine Realität, um daraus Kraft für Veränderungen zu ziehen.
  2. Investiere in Bildung und berufliche Qualifikation, um wirtschaftlich und persönlich unabhängig zu werden.
  3. Kommuniziere klar und selbstbewusst mit Kostenträgern und Behörden, damit du bekommst, was du wirklich brauchst.
  4. Finde Austausch und Unterstützung, am besten mit Menschen, die Ähnliches erlebt haben.
  5. Sei geduldig mit dir selbst, du darfst auch schwach sein – Stärke wächst langsam und stetig.

Diese Erfahrungen haben mich nicht nur stärker gemacht, sondern vor allem glücklich. Sie sind heute der Motor hinter meiner Arbeit als Peer-Coach und Netzwerker.

Ein kurzer Ausblick – 40 Jahre später

Heute stehe ich mit 61 Jahren mitten im Leben. Ich arbeite als Peer-Coach, berate Menschen nach Amputationen, halte Vorträge, spiele Golf und organisiere inklusive Sportveranstaltungen. Ich lebe ein Leben, das mir damals niemand zugetraut hätte – ich mir selbst am wenigsten. Es ist ein Leben voller Sinn und Freude.

Was sich nicht verändert hat, ist meine Überzeugung: Ein erfülltes Leben nach einer Amputation ist möglich – und zwar nicht trotz, sondern genau durch die Erfahrungen, die wir machen.

Möchtest du mehr wissen?

Aus meinen gesammelten FAQ zu diesem Thema habe ich die 20 wichtigsten Fragen und Antworten aus 40 Jahren Amputationserfahrung zusammengestellt. Wenn du also gerade am Anfang deiner Reise stehst oder einfach praxisnahe, authentische Antworten suchst, findest du sie hier:

👉 Zu den 20 wichtigsten FAQ nach Amputation

Bleib in Bewegung, körperlich und emotional,
Dein Thomas

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