Was du siehst, ist nicht alles – Trauma und die verzerrte Wahrnehmung

1985. Mein Hämoglobinwert lag bei 1,4. Ein Wert, bei dem man eigentlich tot sein sollte. Ich war es nicht – aber es fühlte sich so an. Ich erinnere mich an das grelle Licht im Krankenhaus, an die Stimmen, die wie aus weiter Ferne klangen. Mein Körper war zerstört, jeder Atemzug war ein Kampf. Dann wachte ich aus dem Koma auf – und realisierte, was passiert war. Meine Mutter stand an meinem Bett, voller Sorge. Ich schaute sie an und sagte mit letzter Kraft: „Ich kann nie mehr surfen!“. Sie war entsetzt. Ich selbst auch. Das Einzige, woran ich denken konnte, war dieses verlorene Leben, diese eine Möglichkeit, die es jetzt nie mehr geben würde. Fun Fact: Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben noch nie gesurft. Aber in diesem Moment war mein Gehirn davon überzeugt, dass mit meinem Unfall nicht nur mein Körper zerstört wurde, sondern auch alle Möglichkeiten, die Zukunft jemals noch lebenswert zu machen. Was ich damals nicht wusste: Mein Verstand zeigte mir nur einen winzigen Ausschnitt der Wirklichkeit.

Heute verstehe ich, was damals passiert ist. Mein Denken war in einer Falle gefangen, die der Psychologe Daniel Kahneman als WYSIATI bezeichnet – „What You See Is All There Is“. Wenn wir mit einem Trauma konfrontiert sind, wenn unser Leben aus den Fugen gerät, sehen wir nur das, was gerade ist. Unsere Gedanken kreisen um den Schmerz, um den Verlust, um die Angst. Alles andere – mögliche Zukunftsperspektiven, Ressourcen, Wege aus der Krise – bleibt unsichtbar.

Ich erlebe das nicht nur in meiner eigenen Geschichte, sondern auch in meiner Arbeit als Peer Coach für Menschen mit Amputationen. Die ersten Gespräche laufen fast immer gleich: „Ich sehe keinen Ausweg. Mein Leben, wie ich es kannte, ist vorbei.“ Doch genau das ist der WYSIATI-Trick: Wir glauben, dass das, was wir im Moment wahrnehmen, alles ist – und vergessen, dass es Dinge gibt, die wir gerade nicht sehen können. Doch sie sind da.

Die Falle des Hier und Jetzt

Wenn du in einer Krise steckst, fühlt es sich an, als wäre das dein ganzes Leben. Dein Schmerz wird zur einzigen Realität. Die Vorstellung, dass sich Dinge ändern könnten, dass es eine Zukunft gibt, die anders aussieht, fühlt sich fremd oder sogar unmöglich an. Doch das ist nur die Wahrnehmung – nicht die Wahrheit. Was du gerade siehst und fühlst, ist nicht alles. Aber dein Gehirn tut so, als wäre es so.

Die verzerrte Erinnerung

Ein weiteres Problem: In schwierigen Zeiten erinnert sich unser Gehirn besonders gut an andere dunkle Momente. Vielleicht kennst du das? Plötzlich kommt es dir so vor, als wäre dein Leben immer schwer gewesen, als hättest du nie Glück gehabt, als hätte sich das Pech gegen dich verschworen. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Das sind nur die Informationen, die dein Gehirn dir gerade serviert – und die positiven Erfahrungen? Die blendet es aus. Doch auch sie sind da.

Zukunftsangst und Entscheidungsblockaden

„Ich sehe keine Lösung.“ – Ein Satz, den viele Menschen in Krisen sagen. Kein Wunder: Wenn dein Gehirn nur die Optionen zeigt, die in der aktuellen, begrenzten Wahrnehmung existieren, dann wirkt jede Entscheidung hoffnungslos oder falsch. Aber das heißt nicht, dass es keine Alternativen gibt. Es heißt nur, dass du sie gerade nicht siehst.

Wie du WYSIATI überlisten kannst

  • Erinnere dich aktiv an das, was du gerade nicht siehst. Lies alte Tagebucheinträge, schau dir Fotos von Momenten an, die gut waren. Sprich mit Menschen, die dich lange kennen. Sie können dich daran erinnern, dass du auch Erfolge und Glück erlebt hast.
  • Hinterfrage deine Wahrnehmung. Wenn dein Kopf sagt: „Es war schon immer so“ oder „Es wird nie besser“, dann frage dich: Ist das wirklich wahr – oder fehlt hier etwas?
  • Hol dir andere Perspektiven. Andere Menschen haben Informationen, die dir fehlen. Sie sehen Dinge, die du nicht siehst. Deshalb sind Gespräche so wichtig – mit Freunden, mit Menschen, die Ähnliches erlebt haben, oder mit Profis, die dir helfen können.

Warum Peer-Coaching so wichtig ist

Wenn du gerade feststeckst, wenn alles düster erscheint: Erinnere dich daran, dass das nicht alles ist. Dein Gehirn zeigt dir nur einen Ausschnitt. Aber das bedeutet nicht, dass es keine anderen Möglichkeiten gibt. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe es selbst erlebt – und ich sehe es heute immer wieder als Peer Coach für Menschen, die eine Amputation durchlebt haben oder kurz davorstehen.

Die ersten Gespräche sind oft geprägt von Angst, Verzweiflung und einer tiefen Überzeugung, dass nach der Amputation nichts mehr so sein wird wie vorher – und dass das Leben damit „vorbei“ ist. Aber das ist genau der WYSIATI-Effekt: Das Gehirn sieht nur das, was es kennt – den Verlust, die Angst vor dem Unbekannten, die Einschränkungen. Was es nicht sieht, ist die andere Realität, die viele Betroffene nach der Amputation erleben: neue Möglichkeiten, eine andere, aber oft bessere Mobilität, Freiheit von ständigen Schmerzen und ein Leben, das wieder voller Aktivität sein kann.

Ich weiß aus unzähligen Gesprächen, wie wichtig es ist, Menschen zu begegnen, die diese Perspektive bereits gewonnen haben. Menschen, die selbst durch das Tal gegangen sind und zeigen können: Da gibt es noch mehr, als du gerade siehst. Das ist die Kraft des Peer-Coachings. Es ist nicht nur Wissen, nicht nur Information – es ist ein gelebter Beweis dafür, dass WYSIATI nicht die Wahrheit ist.

Wenn du also in einer Krise steckst, wenn sich dein Blickfeld eng anfühlt: Sprich mit jemandem, der den Weg schon gegangen ist. Denn manchmal brauchst du nicht mehr Information – sondern nur jemand, der dir zeigt, dass da noch mehr ist.

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