Ich betreue Menschen nach einer Amputation seit über 10 Jahren als Peer Coach. Dabei fallen mir immer wieder sabotierende Denkmuster bei Betroffenen auf, wie z.B. Menschen mit Behinderung sind weniger leistungsfähig. Die meisten Betroffenen leiden heftig unter der Situation, finden aber aus eigener Kraft keinen Ausweg. Um zu verstehen, wie schwierig es ist Selbstwirksamkeit aufzubauen, versetze ich mich in die Zeit nach meinem Unfall zurück. Ich kenne das Gefühl, den Fehler immer bei sich zu suchen, wenn der Körper nicht wie erhofft funktioniert. Integriert man dieses Gefühl nicht, wiederholt es sich immer wieder – lebenslang. Diese Ohnmacht zu ertragen, kreiert einen permanent hohen Stresslevel. Das Ausgeliefertsein führt zu Hilflosigkeit und Wut gegen sich selbst und das soziale Umfeld. Ein Nichtbehinderter kann auch nicht im Ansatz nachvollziehen, wie viel Kraft eine Behinderung kostet.
Ausgangssituation
In Deutschland werden jährlich 60.000 Amputationen durchgeführt. Für das Gesundheitssystem ist das Alltagsroutine. Der Patientenweg ist durch Leitlinien perfekt organisiert. Für Betroffene ist es ein Drama, denn auf einen Schlag endet ihr Lebensmodell.
Hilflosigkeit und Ohnmacht sind typische Reaktionen nach einer Amputation, mit gravierenden Folgen: Nur 30 % der Menschen mit Behinderung arbeiten im ersten Arbeitsmarkt. 80 % sind es bei Nicht-Behinderten. Auf Fragen zur Teilhabe bekommen Betroffene oft keine Antworten. Viele verzweifeln nach einer Amputation an den Herausforderungen eines neuen, adaptierten Lebensmodells.
Die ersten Tage und Wochen nach einer Amputation sind die schwierigsten. Das bekannte Lebensmodell ist auf einen Schlag vorbei und der Betroffene muss sich komplett neu erfinden. Überforderung und Kontrollverlust machen es jetzt schwer, die Situation zu bewältigen. Anpassungsstörungen, wie Zukunftsängste, Depression oder Suchtprobleme wirken sich negativ auf alle Lebensbereiche aus und sind ganz normale Begleiterscheinungen.
Heute ist es üblich, sich übers Internet zu informieren. Das Internet bzw. die sozialen Netze sind voll von Informationen über Amputation. Der Vorteil, der Betroffene bekommt schnell einen ersten Überblick. Der Nachteil: die Informationen werden für ihn nicht eingeordnet, sind oft aus dem Zusammenhang gerissen und im schlimmsten Fall haben sie keine medizinisch-therapeutische Evidenz. Die vielen Informationen können überfordern. Relevantes Wissen, um gute Entscheidungen für die Zukunft zu treffen, entsteht dadurch nicht. Gespräche mit Ärzten oder Therapeuten verlaufen so häufig nicht im Sinne der Betroffenen (und auch nicht im Sinne von Ärzten, Therapeuten, Orthopädietechnikern etc.). Hilflosigkeit und Ohnmacht wird dadurch nicht kleiner.
Lösung
Peer-Counseling ist aus meiner Sicht die Lösung, um die Situation für die Betroffenen zu entschärfen. Dabei werden Betroffene von Betroffenen für ein Leben mit Amputation vorbereitet. Aktuell ca. 100 organisierte Peer-Coaches stehen dafür in Deutschland zur Verfügung. Das sind für die vielen Fälle viel zu wenige, aber das ist eine andere Geschichte (siehe Digitales Peer-Counseling mit der HandicAPP). Ein Peer-Coaching ist auf jeden Fall für den Betroffenen eine gute Möglichkeit, wieder selbstwirksam zu werden. Der Austausch mit dem Peer-Coach ermächtigt den Betroffenen, Selbstwirksamkeit über Wissen und Erfahrungen aufzubauen. Mit Peer-Counseling werden mehr Menschen nach einem Trauma in ihre Kraft kommen als ohne.
Haben Betroffene einen Rechtsanspruch auf Peer-Counseling?
In dem seit 2017 gültigen Bundesteilhabegesetz (kurz: BTHG) wird Peer Counseling erstmals im Rahmen der „Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung“ gefördert (vgl. § 32 des SGB IX). Damit wird eine Versorgungslücke durch gesetzliche Rahmenbedingungen geschlossen. Zur Stärkung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohter Menschen fördert das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine von Leistungsträgern und Leistungserbringern unabhängige ergänzende Beratung als niedrigschwelliges Angebot, das bereits im Vorfeld der Beantragung konkreter Leistungen zur Verfügung steht. Dieses Angebot besteht neben dem Anspruch auf Beratung durch die Rehabilitationsträger. Bei der Förderung von Beratungsangeboten ist die von Leistungsträgern und Leistungserbringern unabhängige ergänzende Beratung von Betroffenen für Betroffene (Peer-Counseling) besonders zu berücksichtigen.
Meine Erfahrung von fast 40 Lebensjahren mit Amputation sowie meiner Tätigkeit als Peer-Coach bestätigen mir die vielen positiven Effekte, die Peer-Counseling ermöglicht. Leider sieht unser Gesundheitssystem das (noch) nicht so. Viele Betroffene wissen gar nicht, dass es das Angebot gibt, und fordern es daher auch nicht ein. Es wäre schön, wenn v.a. bei Kostenträgern und Medizinern ein anderes Denken einsetzen würde und Peer-Counseling auch gefördert und finanziell unterstützt würde.
Hier ist eine Tabelle der Benefits von Peer-Counseling, basierend auf meinen persönlichen Erfahrungen:
Fazit
Vielleicht ist die Gruppe der amputierten Menschen zu klein im Vergleich zu anderen Krankheiten, wie z.B. chronische Rückenschmerzen („Knapp zwei Drittel der Deutschen ist innerhalb eines Jahres von Rückenschmerzen betroffen. BURDEN-Studie 2020). Aber ich will das mit einem Bild entkräften. Jedes Jahr beginnen 60.000 neue Lebensläufe mit einer Amputation. Eine Menschenmenge, so groß wie das Fassungsvermögen des Schalker Fußballstadions. Jeder einzelne Lebenslauf, jeder Mensch dahinter, hat es verdient, wieder in die Selbstwirksamkeit zu kommen.
Wenn dieser Blogbeitrag ein Musiktitel wäre, dann würde er sich so anhören: Jonny Cash – Hurt
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Wenn du für dich ein wenig tiefer in das Thema einsteigen möchtest, habe ich ein paar inspirierende Fragen in meinem „5 Minutes Booster“ zusammengestellt.
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Foto: Thomas Josek