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Mein Tiger und ich

Mein Tiger und ich

Es war einmal ein kleiner Thomas. Empfindsam, nachdenklich, schüchtern, wohl behütet innerhalb einer kleinbürgerlichen Familie. Allerdings gab es auch Spannungen innerhalb des engsten Familienkreises. Für den Jungen waren dies quälende Situationen, die er mit niemandem teilen konnte. Er fing an, die Dinge mit sich selbst zu regeln – stellvertretend übernahm er das für seinen kleinen Bruder gleich mit. Daraus sollte ein Muster fürs Leben werden: alles was passierte, mit sich selbst auszumachen und keine Hilfe hinzuzunehmen. Das war die Geburtsstunde seiner Persönlichkeit, denn neben dem kleinen schüchternen Thomas schlummerte noch etwas anderes in ihm – ein unangepasster, anarchistischer Gegenpol – ein kleiner Tiger.

Der kleine Tiger war schon damals unbeherrscht, unkontrolliert und aggressiv, aber er blieb meist im Verborgenen. Lange Zeit ging das gut. Nach außen nahm man den kleinen schüchternen und verletzlichen Jungen wahr. Selbst in der Pubertät blieb das so, er war nie aufrührerisch. Doch der Tiger wuchs heran, langsam aber stetig. Er wurde nicht übermächtig, hielt sich meist im Hintergrund doch das änderte sich allmählich. Die erste Partnerschaft hat es ans Tageslicht gebracht: Der Tiger drängte in instabilen Phasen oder bei Drucksituationen in den Vordergrund, stark und unbeherrschbar. Immer wieder blitzte der Tiger auf und verdrängte für einen kurzen Moment den kleinen Thomas. Das erschreckte ihn, weshalb er versuchte, den Tigermodus noch konsequenter unter Kontrolle zu halten – was ihm jedoch immer schlechter gelang.

Der 12.08.1985 war ein Wendepunkt. Als Folge einer unbeherrschten Wutreaktion ereignete sich ein folgenschwerer Unfall, der ihn fast das Leben kostete. Den Unfallhergang erlebte er bei vollem Bewusstsein. Auf Rettung musste er lange warten. Zeit genug, sich von seinen Liebsten zu verabschieden. Er überlebte, aber von da an änderte sich sein Leben. Die Balance zwischen Tiger und kleinem Thomas war in der bis dahin gelebten Form nicht mehr aufrechtzuerhalten. Der Tiger war präsent. Immer öfter trat er in die Öffentlichkeit und übernahm die Kontrolle. Der Unfall zeigte, was passieren konnte, wenn der Tiger freien Lauf bekam. Der kleine Thomas und der Tiger kämpften um die Oberhoheit. Psychologische Hilfe blieb in dieser Zeit aus – das war irgendwie nicht gewollt bzw. schlichtweg übersehen worden. Das Machtgefüge der beiden Charakterrollen musste sich neu finden. In dieser Zeit habe ich eine perfekte Außenkulisse installiert. Eine perfekte Kulisse – ein Potemkinsches Dorf. Das soziale Umfeld nahm den inneren Kampf zwischen dem kleinen, schüchternen Thomas und dem starken Tiger nicht wahr. Wie denn auch, bewunderten sie doch den unermüdlichen Kampf gegen das Erlebte und die Stärke, die daraus erwuchs. Mit der Zeit dachte er, auf Hilfe gar verzichten zu können, es lief doch eigentlich perfekt. Das Studium verlief wie geplant, Freunde hatte er viele und Partnerinnen auch. Eigentlich war alles gut. Dritte nahmen nicht war, dass in Spannungssituationen der Tiger stark wurde, denn seine Kraft und Aggressivität richteten sich immer in eine Richtung: nach Innen. Er hatte nie gelernt, Grenzen aufzuzeigen und Linien zu setzen. Anstatt anderen deutlich zu zeigen wie weit sie gehen durften, richtete er seine negativen Gefühle und seinen Frust gegen sich selbst, statt gegen die Menschen, die die Balance zwischen den beiden Polen störten. Zu solchen Extremsituation kam es in seinem Leben zweimal. Letztendlich überstand er diese instabilen Phasen, weil der Überlebenswille des kleinen, schüchternen Thomas und dessen Glaube an eine positive Zukunft der Zerstörungskraft des Tigers überlegen war.

Nach außen wuchs die Sehnsucht nach Anerkennung, als intelligent, erfolgreich und sympathisch respektiert zu werden. Das war eine Wunschvorstellung, denn im beruflichen wie auch privaten Lebensumfeld traten immer wieder Situationen auf, die die Balance störten. Von außen nahm man den Thomas wahr, den man nach Herzenslust manipulieren konnte – doch immer wenn das versucht wurde, eskalierte die Situation. Der Tiger ließ das nicht zu. Im beruflichen bedeutete das Trennung. Im privaten eigentlich auch. Partnerschaften liefen total harmonisch bis zum ersten Streit – dann war Schluss. Der Tiger war zu selten wahrnehmbar für Dritte, und wenn es dann krachte, war es zu spät.

Die beiden Charakterseiten haben bis heute nur wenige erkannt und verstanden. Fakt ist, dass dieser Status-quo mich viel Energie kostet. Energie, die nicht endlos vorliegt. Schlägt das Pendel zu stark in Richtung Tiger aus, muss ich mit viel Selbstdisziplin die Kontrolle zurück gewinnen. Auf der anderen Seite verliert sich der kleine Thomas in mir in Melancholie, was unweigerlich zur Lähmung führen würde, wenn nicht meine engsten Freunde zur Stelle wären. Den Akku immer wieder auf’s Neue aufzuladen ist wichtig für mich. Qigong hilft mir dabei und gleicht die Kraft und Ausdauer orientierten Aktivitäten harmonisch aus. Der Tiger kommt zu seinem Auftritt beim Sport und darf zeigen was er kann, ansonsten bleibt er verborgen. Angefeuert von den Aktivitäten auf Facebook, Twitter und Youtube ist der Tiger das beherrschende Bild: Kraft, Stärke, Mut und Entschlossenheit. Die Reaktionen darauf sind nicht nur positiv, was mich zu Anfang irritiert hat. Mittlerweile sind mir die negative Kommentare egal. Der Tiger ist eine Seite meiner Persönlichkeit. Die andere ist Nachdenklichkeit und Melancholie. Das Eine wäre ohne das Andere nicht möglich.

Irritationen entstehen, wenn eine Seite meiner Medaille wahrgenommen wird, die andere aber nicht, was in letzter Zeit häufiger vorkommt. Wer mich als kleinen Thomas kennen lernt, dem schenke ich absolutes Vertrauen und Offenheit aber auch Empfindsamkeit. Anscheinend imponiert jedoch nur der Tiger, der kleine Thomas nicht. Das ist das Problem mit modernen Medien: die erzählten Lebensgeschichten werden wahrgenommen, die erlebten nicht.

Lange habe ich darüber nachgedacht, ob mein Leben ohne Unfall anders verlaufen wäre. Nein! Die Frage ist unerheblich und ohne Relevanz. Das Wechselspiel der beiden Charakterseiten hat nichts, aber auch gar nichts mit dem Unfall zu tun. Er hat es katalysiert, aber nicht initiiert. Das Leben wäre ohne Unfall in einem vergleichbaren Muster verlaufen. Genau weiß ich das natürlich nicht, aber es ist zu vermuten. Entscheidend ist, dass der Unfall stellvertretend für viele Traumata steht, die einem im Leben widerfahren. Wäre der Unfall nicht passiert, dann eben etwas anderes.

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