Suche
Close this search box.

Kein schlechtes Gewissen in der Komfortzone

Kein schlechtes Gewissen in der Komfortzone

Thomas Frey und sein Mentor Erwin Keth

Ich blicke jetzt schon 30 Jahre auf meine Karriere als Amputierter zurück. Nichts in meinem Leben habe ich länger gemacht als dieses Projekt. In diesen drei Jahrzehnten begleitet mich – mehr oder weniger abgewandelt – ein Spruch, der mich heute wie 1985 triggert, sprich mich von 0 auf 100 bringt: „Geht nicht gibt’s nicht.“ Unbewusst habe ich meinen Mindset danach ausgerichtet und es hat mich an den Rand des Abgrunds gebracht.

Der Auslöser

In diesem Frühsommer hat mich eine Hüftverletzung aufgrund einer massiven Überbelastung zum Nachdenken gebracht: Lassen wir Behinderten uns zu sehr vom allgemeinen Leistungsdruck der Gesellschaft anstecken und setzen uns Ziele, die für uns unerreichbar sind? Bei all den Hürden des Lebens, die wir als Behinderte zusätzlich zu meistern haben, liefern wir uns damit nicht Stress und Druck pur aus?

Es ist durchaus legitim, sich ambitionierte Ziele zu setzen, um möglichst rasch wieder zu alter Stärke zurückzufinden. Aber wie Gespräche mit anderen amputierten Menschen immer wieder zeigen, führt ein allzu ausgeprägter Leistungsgedanke oft in eine Sackgasse. Die Betroffenen halten dem Druck nicht stand, steigen aus und ziehen sich zurück. Und ich weiß sehr gut wovon ich rede, denn für mich hat es die letzten 30 Jahre immer nur „nach vorne“ gegeben. Wenn ich mir sonntags meinen Plan für die kommende Woche gemacht habe, dann konnte der nicht voll genug sein. Immer getrieben davon, dass ich zu wenig machen könnte. Und wenn ich heute 10, 20 oder 30 Jahre zurückblicke, sehe ich auf einmal, dass diese Angst „Ich mache noch zu wenig, damit ich anerkannt werde.“ lediglich in ein Hamsterrad führt. Und ich habe mich in dieses Hamsterrad begeben.

Der Rückblick

Vor allem in den ersten 10 bis 15 Jahren habe ich immer mehr draufgepackt. Schaue ich auf diese Zeit zurück, bekomme ich einen Riesenrespekt vor diesem Thomas Frey aus 1990. Hätte ich die Chance ihm ein paar Tipps zu geben, würde ich ihm raten: Lass es langsam angehen, nimm dir Zeit zur Erholung. Du wirst ein geiles, erfülltes Leben führen. Geh es konsequent an, aber entspann Dich. Kein Grund zur Hektik.

Der Rat ist leicht daher gesagt für einen, der zu Unfall und Amputation mittlerweile ein anderes Mindset entwickelt hat, als noch vor 10 oder 20 Jahren. Meine Erfahrung und Kernbotschaft: Wenn du nicht in der Lage bist, aus dir selbst heraus deinen individuellen Weg zu finden, dann lass dich inspirieren von Menschen, die diesen Weg schon gegangen sind. Ich hatte damals einen solchen Menschen an meiner Seite – und ich werde Erwin dafür bis zum letzten Atemzug dankbar sein. Seine Philosophie war Zuckerbrot und Peitsche – aber dennoch hat er mir sanft insgesamt meinen Weg vorgeschlagen. Er hatte seinen Weg und ich sollte meinen mit seiner Hilfe finden.

Alte vs neue Vision

Schnell habe ich damals gespürt, dass ich eine neue Vision für mein Leben brauche. Meine alte hatte ausgedient. Um Halt zu finden, bin ich den alten Weg mit den Wertvorstellungen meiner Eltern noch ein Stück weitergegangen: Lehre abschließen, Studium, Karriere, Familie. Aber ich habe schnell eine neue Vision gebraucht und entwickelt. Das war kein bewusst gesteuerter Prozess, vielmehr hat sich die Vision aus meinen Erfahrungen direkt nach dem Unfall entwickelt – als Folge der Hilflosigkeit und Fremdbestimmtheit im Krankenhaus: Ich wollte die Kontrolle über mein Leben wiedergewinnen und es war mein fester Wille, diese Kontrolle nie wieder abzugeben. Meine neue Vision war geboren: Ich will ein selbstbestimmtes und unabhängig Leben bis zum Ende führen!

Das klingt vielleicht banal – für einen Menschen, der gerade mit Ach und Krach sein Leben gerettet hat, war es viel mehr: der rote Faden oder der Polarstern meines Lebens. Einmal den Geist auf diesen Polarstern ausgerichtet, sortierte sich alles Handeln danach. Mein Fokus auf einen gesunden und starken Körper war geboren. Sport und Reha wurden zu einem wichtigen Inhalt in meinem Leben. Andere Etappenziele waren wieder Autofahren zu lernen, meine landwirtschaftliche Lehre abzuschließen, mein Studium zu beginnen und von zu Hause auszuziehen.

Damals hätte der Thomas aus der Zukunft, dem Thomas im Krankenbett aufzeigen können, dass die Zukunft grandios sein wird – trotz einiger schmerzhafter Tiefschläge. Ich musste mich nur trauen, groß und vor allem das Unmögliche zu denken. Wenn du das zulässt, dann kommst du deiner Vision Schritt für Schritt näher.

Mein Mindset

Sport war das Vehikel mein Selbstbewusstsein zu stärken: Skifahren und Rollstuhltennis standen zu Anfang auf meiner Liste ganz oben. Heute ist es Golfen – und alle anderen sportlichen Aktivitäten dienen dazu, mich für das Golfen stark, mobil und fit zu machen.

Jeder, der mit einem Schicksalsschlag dieser Art konfrontiert ist, muss meiner Meinung nach seinen eigenen, ganz individuellen Weg finden. Dieser wird durch niemanden vorgegeben, denn jedes Trauma ist ein Unikat – jeder Mensch auch. Und kein Außenstehender hat das Recht, dich für deinen Weg zu kritisieren. Das ist der schlimmste Berater: Stimmungen anderer zu den eigenen zu machen. Inspiration ja, sich vernetzen mit SchicksalsgenossInnen, unbedingt! Dennoch ist es letztendlich wichtig, Dein Tempo, Deine Form, Deine Art des Lebenswegs zu finden. Und wenn das 10, 20 oder 30 Jahre dauert – so what?

Neue Wege mutig gehen

Das Positive an einem solchen Schicksalsschlag ist: Du hast die Freiheit, von neuem zu beginnen, dich neu zu erfinden. Die Gesellschaft hat erstmal auch keinen Erwartungsdruck. Diese Chance zu sehen, braucht Zeit. Aber den Zeitpunkt, an dem das Leben dir diese Einsicht auf dem Silbertablett serviert, solltest du nicht verpassen. Hab den Mut, deinen Weg zu gehen und lass dich nicht davon abbringen. Wenn du eine Pause brauchst, mal nicht „besser, schneller, weiter“ sein willst – dann ist das völlig in Ordnung.

Ich habe auch erst in den letzten Jahren begriffen, dass im Grunde niemand von mir erwartet, permanent Knallgas zu geben. Ich habe mir selbst einen Druck aufgebaut. Jedes Mal, wenn ein Ziel erreicht war, gab es ein nächstes, größeres – die nächste Möhre hing vor der Nase. So kann es kein „Ankommen“ keine Zufriedenheit mit der aktuellen Situation geben. Und das ist das Wichtige: Das Gute und Schöne im Hier und Jetzt zu genießen und anzuerkennen. Denn wer weiß schon, wie lange deine Uhr tickt… Insofern kann ich nach 30 Jahren als Amputierter sagen: Immer mal wieder Zeit in der wohligen Komfortzone zu verbringen, ist eine richtig gute Sache. Das ist für mich mittlerweile genauso wichtig wie Regeneration nach dem Sport.

Vergleich Dich nicht mit anderen

Und lass dich hier auch nicht von sehr erfolgreichen Behindertensportlern in die Leistungsfalle jagen: Sie hatten ihr Talent für eine Karriere schon VOR dem Unfall und ihr Mindset war schon immer danach ausgerichtet. Nicht der Unfall war also die Ursache für ihre Spitzenleistung, sondern die Fähigkeit, sich trotz widriger Lebensumstände positiv zu entwickeln, gesund zu bleiben und etwas Positives aus ihrem Trauma zu ziehen. So sehe ich das.

Trotz meiner Erfolge als Amputierter ist für mich der 12.8.1985 der beschissenste und ungerechteste Tag meines Lebens – und dabei bleibt es. Meine sportlichen und beruflichen Erfolge sind nicht eine Folge meine Unfalls, sondern das Ergebnis vieler Komponenten, die alle schon vor dem Tag X da waren – Mindset, Talent, Glaubenssätze, Einstellung und das sichere Gefühl, etwas in die Welt zu bringen, für das es sich lohnt, morgens aufzustehen.

Die Essenz aus diesem Beitrag ist, dass durch Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und den Glauben daran, sein Schicksal selbst in der Hand zu haben, du zum Gestalter deines Lebens wirst und nicht zum Opfer deines Schicksals.

Ich habe über 30 Jahre gebraucht, um zu erkennen was mir wichtig ist: Nicht mit der Brechstange loslaufen, sondern mehr Lebensfreude zulassen!

Inspirationsbooster gefällig?

Erhalte meinen persönlichen Newsletter mit Impulsen und guten Nachrichten für ein erfülltes und freudvolles Leben. Sei dabei!